Sechs mit dem Weltraumteleskop Webb entdeckte Objekte stellen kosmologische Modelle infrage

Bereits 500 bis 700 Millionen Jahre nach dem Urknall gab es Galaxien, die mit bis zu mehreren hundert Millionen Sonnenmassen etwa so groß waren wie unsere Milchstraße. Zu diesem Schluss kommt ein internationales Forscherteam nach Auswertung von Beobachtungsdaten, die das neue James Webb Space Telescope geliefert hat. Insgesamt sechs derartige Objekte fanden die Astronomen in einer kleinen Himmelsregion, die das Teleskop im vergangenen Jahr über 65 Stunden lang beobachtet hatte. Derart massereiche Galaxien sollte es nach den derzeitigen Vorstellungen der Astrophysiker jedoch im jungen Kosmos nicht geben, so die Wissenschaftler im Fachblatt „Nature“.

„Es ist verrückt“, beschreibt Erica Nelson von der University of Colorado die Situation, „wir erwarten einfach nicht, dass das junge Universum in der Lage war, sich so schnell zu organisieren. Solche Galaxien hatten nach unseren Vorstellung nicht genug Zeit, um sich zu entwickeln.“ Frühere Beobachtungen etwa mit dem Weltraumteleskop Hubble zeigen zwar schon 350 Millionen Jahre nach dem Urknall Galaxien – doch diese sind klein und besitzen eine wesentlich geringere Masse.

Nach den Vorstellungen der Kosmologen bilden sich aus diesen ersten kleinen Galaxien – auch als „Protogalaxien“ bezeichnet – durch Zusammenstöße und Verschmelzungen im Laufe der kosmischen Geschichte die heutigen großen Galaxien wie unsere Milchstraße. Diese Vorstellungen werden durch die Entdeckung von Nelson und ihren Kollegen jetzt auf den Kopf gestellt. „Die Objekte sind sehr hell und sie sind rötlich“, so die Astronomin, „wir hatten nicht erwartet, auf so etwas zu stoßen.“

Denn eine starke rote Färbung bedeutet für die Astronomen: Diese Objekte müssen sehr weit weg sein. Seit dem Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren expandiert der Kosmos – der Abstand zwischen den Galaxien wächst an wie bei Punkten auf der Oberfläche eines Ballon, der aufgeblasen wird. Aber diese Expansion betrifft nicht nur die Galaxien, sondern auch das Licht. Während die Lichtwellen sich von einer fernen Galaxie zur Erde ausbreiten, nehmen sie an der Expansion teil, werden also gestreckt. Dadurch wird die Wellenlänge des Lichts größer. Und eine größere Wellenlänge bedeutet: Das Licht verschiebt sich in den roten Bereich.

Die rätselhaften Objekte mussten also sehr weit entfernt sein, so weit, dass ihr Licht 13,1 bis 13,3 Milliarden Jahre bis zur Erde benötigt. Und damit sehen die Forscher diese Galaxien so, wie sie vor 13,1 bis 13,3 Milliarden Jahren ausgesehen haben, in der Frühzeit des Kosmos. Zusammen mit der ungewöhnlich großen Helligkeit ergaben sich nach den Berechnungen des Teams für die Objekte Massen von zehn bis mehreren hundert Milliarden Sonnenmassen. „Wenn das wahr ist“, so Nelson, „stoßen wir damit an die Grenzen unserer kosmologischen Vorstellungen.“ Galaxien müssten viel schneller anwachsen, als es Computersimulationen der kosmischen Entwicklung vermuten lassen – oder irgendetwas am derzeitigen kosmologischen Modell müsse falsch sein.

Allerdings, so gestehen die Forscher vorsichtig ein, könnte auch die Interpretation der Webb-Daten durch das Team falsch sein: Vielleicht handelt es sich bei den rötlichen Flecken nicht um junge massereiche Galaxien, sondern um eine völlig neue Art von Objekten. Oder um große Schwarze Löcher, die hinter dichten Wolken aus Staub verborgen sind. Aber auch das, betont Nelson, wären aufsehenerregende Entdeckungen. Mithilfe weiterer detaillierter Beobachtungen mit dem Webb-Teleskop und anderen Instrumenten wollen die Forscher nun die wahre Natur dieser rätselhaften Objekte im jungen Kosmos enthüllen.

Bildquelle: NASA/ESA/CSA