Experiment Borexino liefert erste vollständige Messung des solaren Neutrino-Spektrums

Ein 1400 Meter unter dem italienischen Gebirgsmassiv Gran Sasso untergebrachter Detektor hat einem internationalen Forscherteam den bislang besten Blick in das Herz der Sonne ermöglicht: Das Experiment Borexino lieferte erstmals ein einheitlich gemessenes, vollständiges Spektrum der Neutrinos aus dem Inneren unseres Zentralgestirns. Die Daten bestätigen die theoretischen Modelle, nach denen 99 Prozent der Sonnenenergie ihren Ursprung in dem als Proton-Proton-Kette bezeichneten Kernfusionsprozess haben. Zugleich deuten sie aber auch auf Unstimmigkeiten in den Modellen der Entwicklung der Sonne, berichtet das Borexino-Team im Fachblatt „Nature“.

„Neutrinos sind ein einzigartiges Werkzeug der Sonnenphysik“, so die Forscher. Denn mit ihren Teleskopen können Astronomen nur die Oberfläche der Sonne beobachten – und dort kommt die im Sonnenkern erzeugte Energie erst nach hunderttausend Jahren an. Im Gegensatz dazu können bei der Kernfusion entstehende Neutrinos die Sonnenmaterie nahezu ungehindert durchdringen, sie ermöglichen also einen direkten Blick ins Herz der Sonne. Denn Neutrinos treten mit normaler Materie nur extrem schwach in Wechselwirkung.

Eben diese Eigenschaft der Neutrinos macht aber andererseits auch ihren Nachweis auf der Erde schwierig – es werden sehr spezielle große Detektoren benötigt, tief unter Felsschichten verborgen, wo sie vor Störungen durch andere energiereiche Teilchen geschützt sind. Borexino ist ein dünnwandiger kugelförmiger Nylonballon, gefüllt mit 300 Tonnen einer speziellen Szintillator-Flüssigkeit. Atome dieser Flüssigkeit leuchten bei den seltenen Reaktionen mit Neutrinos auf. Und dieses Leuchten registrieren etwa 2000 hochempfindlichen Lichtdetektoren in der Wand der umschließenden Edelstahlkugel. Der Vorteil von Borexino im Gegensatz zu anderen Neutrino-Detektoren: Er kann sowohl hoch- als auch niederenergetische Neutrinos nachweisen und so einen vollständigen Überblick über das energetische Spektrum der Teilchen liefern.

Der wichtigste Fusionsprozess im Kern der Sonne ist die Proton-Proton-Kette, die mit der Verschmelzung von jeweils zwei Protonen beginnt und über unterschiedliche Reaktionswege schließlich zur Entstehung von Helium-4 führt. Die Borexino-Messungen bestätigen das Standardmodell der Sonne, gemäß dem 99 Prozent der solaren Energie aus dieser pp-Kette stammen. Allerdings hängen einige der Reaktionen der pp-Kette davon ab, wie viel Elemente schwerer als Helium in der Sonne vorhanden sind – und darüber herrscht unter den Wissenschaftlern bislang Unklarheit.

Aktuelle spektroskopische Bestimmungen des Anteils an schweren Elementen liefern einen Wert, der um 35 Prozent niedriger ist als frühere Annahmen. Doch dieser niedrigere Wert führt zu Widersprüchen mit Modellen der Entwicklung und des inneren Aufbaus der Sonne – die wiederum durch Messungen von Schwingungen unseres Zentralgestirns gut bestätigt sind. Diese helioseismologischen Daten stimmen besser mit höheren Werten für den Anteil an schweren Elementen überein. Die Borexino-Daten deuten nun ebenfalls auf einen höheren Anteil an schweren Elementen.

Das allerdings würde bedeuten, dass es entweder Fehler bei den aktuellen spektroskopischen Methoden oder bei den Entwicklungsmodellen der Sonne gibt. Noch reicht die Genauigkeit der Borexino-Messungen nicht aus, um dieses Dilemma zu lösen. Doch Borexino misst weiter – und die Forscher hoffen, bald auch Neutrinos aus einem anderen Prozess, dem CNO-Zyklus, nachweisen zu können. Zwar liefert der CNO-Zyklus nur etwa ein Prozent der Sonnenenergie – aber er hängt wesentlich stärker vom Anteil an schweren Elementen ab als die pp-Kette. Eine Beobachtung der Neutrinos des CNO-Zyklus könnte daher künftig helfen, den Anteil an scheren Elementen im Sonneninneren genauer zu ermitteln.

Bildquelle: Borexino