Untersuchung von 72 Zusammenstößen von Galaxienhaufen liefert Informationen über die mysteriösen Partikel der Dunklen Materie

Versoix (Schweiz) - Die Indizien sind überwältigend: Etwa 80 Prozent der Materie im Kosmos ist offenbar dunkel. Sie tritt also mit normaler Materie – dem Stoff, aus dem Sterne, Planeten und Lebewesen sind – nur über die Schwerkraft in Wechselwirkung und ist ansonsten unsichtbar. Woraus aber besteht diese Dunkle Materie? Ein Astronomenteam aus der Schweiz und Großbritannien ist der Antwort auf diese Frage nun einen Schritt näher gekommen. Die Untersuchung von 72 Zusammenstößen von Galaxienhaufen durch die Forscher bestätigt nicht nur mit der bislang höchsten statistischen Signifikanz die Existenz der Dunklen Materie, sie kann erstmals auch einige Modelle wie beispielsweise dunkle Protonen als Erklärung ausschließen. Angewendet auf eine noch größere Anzahl von Kollisionen könnte das Verfahren künftig entscheidende Informationen über die Partikel der Dunklen Materie liefern, so die Wissenschaftler im Fachblatt „Science“.

„Zusammenstöße von Galaxienhaufen bieten uns die Möglichkeit, die nichtgravitativen Kräfte zu untersuchen, die auf die Dunkle Materie wirken“, erläutern David Harvey vom Observatoire de Sauverny in der Schweiz und seine Kollegen. Diese Methode wurde von Astronomen erstmals am „Bullet Cluster“ angewendet. Bereits hier zeigte sich, dass die Dunkle Materie bei einer solchen Kollision zunächst nahezu ungehindert weiter fliegt, während die normale Materie stark abgebremst wird. Während also die normale Materie insbesondere über elektromagnetische Kräfte in Wechselwirkung tritt, scheinen die Teilchen der Dunklen Materie sich auch untereinander nur über ihre Schwerkraft zu beeinflussen.

Harvey und seine Kollegen haben diese Methode nun auf 72 Kollisionen von Galaxienhaufen angewendet und dort die Verteilung der normalen und der Dunklen Materie untersucht. Insgesamt konnten die Forscher die obere Grenze für den Wirkungsquerschnitt einer nichtgravitativen Wechselwirkung der Teilchen der Dunklen Materie auf weniger als ein Fünftel des aus dem Bullet-Cluster ermittelten Wertes senken. „Damit liegen wir nun unterhalb des Wirkungsquerschnitts von Protonen“, so Harvey, „die Dunkle Materie kann also nicht einfach aus einer Art dunkler Protonen bestehen.“

Viele Erklärungsansätze für die Dunkle Materie gehen davon aus, dass das Standardmodell der Teilchenphysik um einen verborgenen Sektor erweitert werden muss – um Teilchen, die mit den Teilchen der normalen Materie ausschließlich über die Schwerkraft, untereinander aber sehr wohl über eine für normale Materie verborgene Kraft wechselwirken können. Einen verborgenen Sektor aus dunklen Protonen können Harvey und seine Kollegen also bereits ausschließen, die Anwendung der Methode auf weitere Kollisionen könnte den Kreis möglicher Kandidaten weiter schrumpfen lassen, so die Forscher.

Die Untersuchung lässt aber keinen Zweifel mehr daran, dass es Dunkle Materie tatsächlich gibt. Viele der Dunklen Materie zugeschriebene Phänomene ließen sich zwar durchaus auch durch eine Modifikation des Gravitationsgesetzes erklären. Nicht jedoch das unterschiedliche Verhalten der gewöhnlichen und der Dunklen Materie bei Zusammenstößen von Galaxienhaufen. Harvey und seine Kollegen geben auf Basis ihrer Untersuchung eine Wahrscheinlichkeit von weniger als eins zu einer Billion dafür an, dass es keine Dunkle Materie gibt.

Bildquelle: Nasa / Esa / Harvey et al.