Die Teilchen stellen mit ihrer Energie einen neuen Rekord auf – und kamen möglicherweise aus dem Weltall
Madison (USA) - Eine Detektoranlage im Eis der Antarktis hat zwei Neutrinos mit einer Energie von mehr als einer Billiarde Elektronenvolt registriert. „Das ist die höchste Energie, die wir jemals bei Neutrinos gemessen haben“, freut sich Physiker Thomas Gaisser vom IceCube-Projekt. Die am 8. August 2011 und am 3. Januar 2012 beobachteten Teilchen waren etwa 100 Millionen Mal energiereicher als Neutrinos, die von Supernova-Explosionen zur Erde gelangen. Die Rekord-Neutrinos könnten bei einem Gammastrahlungsausbruch in einer weit entfernten Galaxie entstanden sein.
„Das würde uns eine neues Fenster in den Kosmos öffnen“, so Gaisser. Denn Neutrinos sind recht scheue Gesellen: Sie treten mit gewöhnlicher Materie kaum in Wechselwirkung. Deshalb könnten sie den Astrophysikern einen Blick tief in das Innere von Himmelskörpern ermöglichen, zum Beispiel in die energiereichen Prozesse, die bei der Explosion extrem massereicher Stern ablaufen. Doch die schwache Wechselwirkung der Neutrinos mit gewöhnlicher Materie hat für die Forscher auch einen gravierenden Nachteil – die Partikel lassen sich nur schwer nachweisen. Die meisten Neutrinos durchqueren den gesamten Erdball, ohne eine einzige Reaktion auszulösen.
Um die flüchtigen Partikel nachzuweisen, sind daher große Materiemengen nötig, die aus möglichst reinen Stoffen bestehen, die mit Neutrinos reagieren können. Ein solcher Stoff ist beispielsweise Wasser – und im Eis der Antarktis liegt es in großen Mengen in ausreichend reiner Form vor. Reagiert ein Neutrino – was selten vorkommt – mit einem Wassermolekül, so entstehen elektrisch geladene Teilchen, die mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch das Eis rasen und dabei Licht aussenden, so genannte Tscherenkow-Strahlung. Nach diesem Licht suchen die Forscher mit IceCube. IceCube ist – der Name sagt es bereits – ein Eiswürfel. Ein riesiger Eiswürfel: Seine Kantenlänge beträgt einen Kilometer. 5.160 Lichtverstärkern haben die Physiker des IceCube-Projekts bis zu 2,5 Kilometer tief in einem Kubikkilometer des antarktischen Eises versenkt. So können sie das Tscherenkow-Licht nicht nur einfangen, sondern auch die Richtung bestimmen, aus der es kommt – und damit auch die Herkunftsrichtung der Neutrinos.
In ihrem jetzt online in der wissenschaftlichen Datenbank arXiv veröffentlichten Bericht mahnen die Forscher des IceCube-Projekts allerdings noch zur Vorsicht bei der Interpretation der beiden Ereignisse. Die beiden Neutrinos wurden bei der vollständigen Auswertung der Messungen der Detektoranlage über einen Zeitraum von zwei Jahren aufgespürt. Über diesen Zeitraum hinweg wäre zwar nur mit einem „atmosphärischen Hintergrund“ – Neutrinos, die durch Reaktionen anderer hochenergetischer Teilchen der kosmischen Strahlung erst in der irdischen Lufthülle entstehen - von 0,08 Neutrinos mit derart hohen Energien zu rechnen. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,5 Prozent – 2,8 Sigma im Physiker-Jargon – stammen die Neutrinos daher selbst aus den Tiefen des Alls.
Doch Physiker setzen die Grenze für einen signifikanten Beweis bei mindestens 3 Sigma, entsprechend einer Wahrscheinlichkeit von über 99,7 Prozent. „Diese beiden Ereignisse könnten zwar ein erster Hinweis auf einen astrophysikalischen Neutrinostrom sein“, schreiben die Wissenschaftler, „aber für eine sichere astrophysikalische Interpretation benötigen wir mehr Daten.“
Bildquelle: IceCube Collaboration