Himmelsmechanisches Phänomen lässt Gas- und Staubscheibe um 90 Grad kippen

Es ist eine ungewöhnliche Kombination: Ein junger Doppelstern mit einem Ring aus Gas und Staub – der aber nicht in der Bahnebene der beiden Sterne liegt, sondern senkrecht dazu. Die Theorie der Himmelsmechanik sagt die Existenz solcher polarer protoplanetarer Scheiben seit langem voraus. Jetzt gelang es einem internationalen Forscherteam erstmals, dieses Phänomen tatsächlich nachzuweisen. Dazu beobachten die Astronomen den 146 Lichtjahre entfernten Doppelstern HD 98800 mit der Teleskopanlage ALMA in der chilenischen Atacama-Wüste. Etwa die Hälfte aller Planeten von Doppelsternen könnte sich auf polaren Umlaufbahnen bewegen, folgern die Wissenschaftler im Fachblatt „Nature Astronomy“.

„Nahezu alle jungen Sterne sind von dichten Scheiben aus Gas und Staub umgeben“, erläutert Grant Kennedy von der University of Warwick in Großbritannien. In diesen Scheiben entstehen häufig Planeten: Etwa ein Drittel aller Einzelsterne besitzt nach heutigen Erkenntnissen planetarische Begleiter. „Einige dieser Planeten kreisen nicht in der Äquatorebene ihres Sterns, sondern mehr oder weniger stark dagegen geneigt. Wir haben uns daher gefragt, ob es so etwas auch bei Doppelsternen gibt.“

Theoretische himmelsmechanische Analysen hatten in den vergangene Jahren gezeigt, dass durch die Wechselwirkung des Bahn-Drehimpulses des Doppelsterns mit einer protoplanetaren Scheibe auf Dauer nur zwei stabile Zustände möglich sind: Entweder Sterne und Scheibe bewegen sich koplanar, also ganz normal in einer Ebene – oder die Scheibe kippt vollständig in eine polare Position, also um 90 Grad gegen die Bahnebene der Sterne geneigt. Während zahlreiche Doppelsterne mit koplanaren Scheiben bekannt sind, war bislang allerdings unklar, ob auch polare Zustände tatsächlich in der Natur vorkommen.

Offenbar ja, wie Kennedy und seine Kollegen jetzt mit ihren ALMA-Beobachtungen zeigen. ALMA, das Atacama Large Millimeter/Submillimeter Array, besteht aus insgesamt 66 Antennen mit sieben bis zwölf Metern Durchmesser. Es eignet sich besonders gut zur Untersuchung von Regionen, in denen Sterne und Planeten entstehen. Die Messungen der Forscher zeigen nicht nur, dass die Gas- und Staubscheibe polar ist, sondern auch, dass sich der Staub zu immer größeren Körnchen verdichtet. „Auch in polaren protoplanetaren Scheiben läuft also dieser erste Schritt zur Entstehung von Planeten ab“, so die Forscher.

Und wenn dieser Prozess ähnlich abläuft wie in den protoplanetaren Scheiben um Einzelsterne, dann sollte es auch entsprechend viele Planeten in polaren Umlaufbahnen um Doppelsterne geben, folgern Kennedy und seine Kollegen. Tatsächlich sollte sogar etwa die Hälfte aller Planetensysteme von Doppelsternen eine solche polare Konfiguration aufweisen, so das Team – eine ausreichende Motivation, um eine intensive Suche nach derartigen Systemen zu beginnen.

Bildquelle: M. Garlick, University of Warwick