Neues Großteleskop geht in Betrieb: Astronomen hoffen auf die Entdeckung von Millionen neuer Himmelskörper
Am 23. Juni ist es so weit: Nach monatelangen Tests und Kalibrierungen nimmt am Vera Rubin Observatory auf dem Cerro Pachón in Chile ein neues Großteleskop mit einem 8,4 Meter großen Hauptspiegel seinen wissenschaftlichen Betrieb auf. „First Look“ nennen die Astronomen dieses im Internet gestreamte Ereignis, also „erster Blick“, denn hier sollen auch erste Aufnahmen präsentiert werden, die während der Testphase gewonnen wurden.
Das Besondere ist dabei nicht die Größe der Optik dieses neuen Teleskops – weltweit gibt es bereits über ein Dutzend Fernrohre mit Objektiven von acht bis elf Metern Durchmesser. Vielmehr ist die elektronische Kamera, die das gebündelte Licht des Hauptspiegels empfängt, das Herzstück des neuen Observatoriums. Mit einem Gewicht von 2,8 Tonnen, einer Bildgröße von zehn Quadratgrad – das entspricht etwa der 50-fachen Fläche des Vollmonds – und einer Auflösung von 3200 Megapixeln ist es die größte Digitalkamera, die je gebaut wurde.
Diese Kamera – die den Namen „Legacy Survey of Space and Time“ trägt, was auf Deutsch etwa „Vermächtnis-Durchmusterung von Raum und Zeit“ bedeutet – soll Nacht für Nacht tausend Bilder des Südhimmels liefern. Das entspricht täglich einer Datenmenge von 20.000 Gigabyte. Undenkbar also, dass menschliche Astronomen all diese Aufnahmen betrachten oder diesen gewaltigen Datenberg analysieren. Selbst gewöhnliche Computerprogramme wären hier überfordert. Eine zentrale Rolle spielen deshalb fortschrittliche Algorithmen wie neuronale Netze und maschinelles Lernen bei der Suche nach Auffälligkeiten – also nach Muster oder Veränderungen – in den Daten.
So könnte beispielsweise unter den Myriaden von Lichtpünktchen auf den Aufnahmen eines von Nacht zu Nacht seine Position relativ zu den anderen verändert. Das Lichtpünktchen bewegt sich also am Himmel – für die Astronomen ein untrügliches Zeichen dafür, dass es sich um ein Objekt in unserem Sonnensystem handelt. Denn bei allen weiter entfernten Himmelskörpern wäre selbst eine schnelle Bewegung in menschlichen Zeiträumen nicht zu erkennen.
In so einem Fall muss das als „verdächtig“ markierte Objekt zunächst mit den Katalogen der bekannten Himmelskörper abgeglichen werden, also mit all den Asteroiden und Kometen, die überall im Sonnensystem umherschwirren. Findet sich dort keine Übereinstimmung, so schlägt das System automatisch Alarm: Astronomen in aller Welt sind aufgefordert, das neu entdeckte Objekt genauer unter die Lupe zu nehmen.
Allein fünf Millionen neuer Asteroiden hoffen die Himmelsforscher in der Region zwischen Mars und Jupiter, dem Asteroidengürtel, aufzuspüren. Heute sind dort 1,4 Millionen bekannt. Hinzu kommen mehrere hunderttausend Asteroiden auf anderen Bahnen. Manche dieser Objekte können sich sogar der Erde nähern und stellen deshalb potentiell eine Gefahr da. Die Forscher hoffen, die Zahl der bekannten erdnahen Asteroiden um das Zehnfache zu steigern und so immerhin 70 Prozent der gefährlichen Objekte mit Größen oberhalb von 140 Metern zu erfassen.
Und auch das äußere Sonnensystem jenseits der Neptunbahn soll mit dem Vera Rubin Observatory einer gründlichen Inventur unterzogen werden. Dort schwirrt eine großer Zahl eisiger Objekte herum, darunter auch fünf Zwergplaneten wie Pluto, die sich seit der Entstehung des Sonnensystems vor 4,5 Milliarden Jahren kaum verändert haben. Die Erforschung dieser fernen Eiswelten könnte den Astronomen deshalb neue Erkenntnisse über die Frühzeit des Sonnensystems liefern.
Bislang kennen die Wissenschaftler etwa 3300 solcher „transneptunischen Objekte“. Mit dem neuen Teleskop und seiner hochwertigen Kamera hoffen sie, diese Zahl auf 37.000 zu erhöhen. Darunter könnten sich dann auch weitere Zwergplaneten ähnlicher Größe wie Pluto befinden. Oder sogar „Planet 9“, ein weiterer großer Planet, über den in der Himmelsforschung seit Jahrzehnten spekuliert und gestritten wird.
Aber so spektakulär die von den Forschern erwarteten Entdeckungen in unserem Sonnensystem auch sein mögen – es ist nicht die einzige und nicht einmal die ursprünglich angedachte Aufgabe des neuen Teleskops. Die ersten Ideen für ein großes Teleskop zur Himmelsdurchmusterung kursierten bereits Anfang der 1990er Jahre. Damals stand als Ziel die Enträtselung der mysteriösen Dunklen Materie im Zentrum des Vorhabens.
Die Dunkle Materie hält Galaxien und Galaxienhaufen zusammen: Die in Form von Sternen und Gaswolken sichtbare Materie reicht bei Weitem nicht aus, um mit ihrer Anziehungskraft die Fliehkräfte auszugleichen. Die beobachteten Bewegungen sind zu schnell, Galaxien und Galaxienhaufen würden ohne die zusätzliche Masse – eben die Dunkle Materie – in astronomisch kurzer Zeit auseinanderfliegen. Und obwohl es im Kosmos fünf Mal so viel Dunkle Materie gibt wie normale Materie – also den Stoff, aus dem Sterne, Planeten und wir Menschen sind – weiß bislang niemand, woraus die Dunkle Materie besteht.
Ende der 1990er Jahre kam ein weiteres dunkles Rätsel hinzu. Das Universum ist vor 13,8 Milliarden Jahren im Urknall – einem extrem dichten und heißen Zustand – entstanden. Seitdem wird der Kosmos immer größer, er dehnt sich aus. Würde diese Expansion ewig andauern – oder würde sie sich irgendwann umkehren und der Kosmos würde wieder in sich zusammenfallen? Auch siebzig Jahre nach der Entdeckung der kosmischen Expansion hatten die Astronomen auf diese Frage keine Antwort.
Eines indes schien sicher: Die Anziehungskraft der ganzen Materie im Weltraum müsste die Expansion langsam abbremsen. Doch das erwies sich als Irrtum. Die genaue Beobachtung ferner Sternexplosionen führte Ende der 1990er Jahre zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Expansion sich keineswegs verlangsamt, sondern im Gegenteil sogar beschleunigt. Es muss also eine geheimnisvolle „Dunkle Energie“ geben, die den Kosmos immer rasanter aufbläht.
Das vorrangige Ziel des Vera Rubin Observatory sollte es sein, mit seiner Kamera mehrere Milliarden Galaxien erfassen, um aus ihren Formen und ihrer Anordnung im All Rückschlüsse auf die physikalische Natur der Dunklen Materie und der Dunklen Energie zu ziehen. „Innerhalb eines Jahrzehnts werden wir wissen, ob die Dunkle Energie konstant ist oder sich im Laufe kosmischer Zeiträume verändert“, hofft Anais Möller von Swinburne University in den USA.
Schon bald fiel den Astronomen auf, dass ein solches Teleskop aber ein weit über diese Aufgaben hinausgehendes Potenzial besitzt. Denn es würde am Himmel auch eine Vielzahl anderer Objekte erfassen – und vor allem auch deren Veränderungen registrieren. „Die gewaltige Datenmenge von Rubin wird uns auch eine Sammlung von Supernovae – explodierenden Sternen – in unterschiedlichen Entfernungen und in verschiedenen Arten von Galaxien liefern“, so Möller. Hinzu komme Millionen veränderlicher Sterne in der Milchstraße und die Entdeckung zahlloser Kleinkörper im Sonnensystem.
Und durch diese Vielseitigkeit des Instruments ließen sich Astronomen ganz unterschiedlicher Interessenbereiche für das Projekt begeistern – und damit schließlich die Finanzierung des Vorhabens aus US-Bundesmitteln sichern. Die Gesamtkosten des Vera Rubin Observatory betragen etwa 800 Millionen Dollar, für den Betrieb werden pro Jahr 20 bis 30 Millionen Dollar benötigt.
Im Jahr 2011 begann der Bau der neuen Sternwarte auf dem 2700 Meter hohen Cerro Pachón. Dieser Höhenzug ist seit langem für seine guten Sichtverhältnisse bekannt – in unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich mit Gemini South ein weiteres Großteleskop. Am 12. März dieses Jahres wurde dann die LSST-Kamera installiert und die finale Testphase des Observatoriums begann.
Mit Beginn des wissenschaftlichen Betriebs am 23. Juni bricht nach Ansicht der Betreiber „eine neue Ära der Astronomie“ an. Und wie immer, wenn die Forscher mit neuen Instrumenten weiter ins All vorstoßen, ist auch mit Überraschungen zu rechnen. „Die Entdeckungen könnten zur Entstehung ganz neuer Bereiche der Astronomie führen“, sagt Adam Miller von der Northwestern University in den USA. „Sehr wahrscheinlich wird Rubin Dinge finden, von deren Existenz jetzt noch niemand etwas ahnt.“
Vera Rubin
Vera Rubin war eine der bekanntesten Astrophysikerinnen in den USA. Ihr Hauptinteresse galt der Bewegung von Galaxien. Bei der Beobachtung der Andromeda-Galaxie stieß sie auf erste Hinweise für die Dunkle Materie. Es ist daher eine passende Wahl der National Science Foundation der USA, das neue Observatorium nach der 2016 verstorbenen Forscherin zu benennen.
Bildquelle: Vera Rubin Observatory